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WORT | Leben mit Dyspraxie

Von Michèle Gantenbein

Malik war ein Jahr alt, als die Mutter sah, dass ihr zweites Kind sich nicht so entwickelte, wie sie es von ihrem ersten Sohn her kannte. Malik begann zu laufen, stieß sich und fiel ständig hin. Als er 17 Monate alt war, brachte die Mutter ihn ins Krankenhaus. Dort konnte man nichts Anormales feststellen.

Es folgten weitere Arztbesuche. Sie schrieb ihren Sohn bei „Little Gym“ ein. „Malik war das einzige freie Elektron. Er machte nicht das, worum man ihn bat“, erzählt die Mutter. „Der Parcours war kurz, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen.“

Später im Précoce gingen die Probleme weiter. „Malik hatte Koordinationsprobleme. Er konnte nicht sitzen bleiben und nicht aufrecht stehen. Er konnte sich nicht konzentrieren und war ständig müde, müde, müde.“ Was andern Kindern einen Riesenspaß bereitete, war für Malik eine Qual: Puzzles, Bastelarbeiten, Zeichnen.

Ganz anders Maliks Sprachentwicklung. „Er lernte sehr schnell sprechen. Seine Sätze waren schön strukturiert“, erzählt die dreifache Mutter. Die Diskrepanz zwischen Maliks motorischer und sprachlicher Entwicklung wurde immer größer.

Die Mutter suchte weitere Ärzte und Spezialisten auf. Dem Jungen fehlte es Muskelkraft und an Tonus. Als ein Arzt im Juli 2015 vorschlug, den Jungen auf Dyspraxie untersuchen zu lassen, hörte die Mutter den Begriff zum ersten Mal.

Im April 2016 dann die Bestätigung: Malik leidet an Dyspraxie, einer Koordinations- und Entwicklungsstörung. Die Eltern atmeten auf. Endlich hatten sie eine Erklärung für Maliks Verhalten.

Keine Automatismen

„Malik kann sich nicht auf zwei oder mehrere Dinge gleichzeitig konzentrieren, weil er keine Automatismen entwickelt. Das ist als müssten wir Erwachsene beim Autofahren jedesmal an alle Einzelheiten denken“, erzählt Maliks Lehrerin. Der Junge besucht den Kindergarten. Anne Fogen-Brassel teilt sich die Klasse mit ihrer Kollegin Corinne Tosoroni.

Beide helfen Malik, beim Ausziehen vor der Turnstunde, beim Rechnen, indem sie seinen Arm heben, wenn er auf Gegenstände zeigen und sie abzählen soll. Statt Pantoffeln trägt Malik Anti-Rutsch-Strümpfe, weil sie seine Körperhaltung verbessern. Um ihm den Alltag zu erleichtern, werden manche Dinge gemieden: Kleidung mit Knöpfen, Schuhe mit Schnürsenkeln, Schals.

Die Eltern wollen, dass Malik autonom wird. Dennoch übernimmt die Mutter zu Hause das morgendliche Anziehen, „weil es sonst ewig dauert“. Malik kann sein Fleisch nicht alleine schneiden und nicht sauber essen. Ein Lätzchen lehnt er aber ab. „Er sagt, er sei kein Baby mehr“, erzählt die Mutter. Damit er morgens ausgeruht ist, braucht Malik täglich mindestens zehn, wenn nicht zwölf, manchmal sogar 13 Stunden Schlaf.

Der Fünfeinhalbjährige liebt das Spielen in der Natur.
Der Fünfeinhalbjährige liebt das Spielen in der Natur.
Foto: Privat

Ein ganz normales Kind

Abgesehen von seinem Mangel an Tonus und seinen Koordinationsproblemen ist Malik ein ganz normales Kindergartenkind. „Vom Wissen und Können her ist er mit den anderen Kindern vergleichbar“, sagt Anne Fogen-Brassel. „Er ist offen, hört aufmerksam zu und kann Geschichten korrekt nacherzählen.“ Obwohl ihm alles Motorische schwerfällt, hat er eine Vorliebe für das Bauen mit Legosteinen, und für Puzzles. „Er hat einen starken Willen, er kann Hürden überwinden“, erzählt die Lehrerin. „Er kann alles. Es sieht bei ihm eben nur anders aus.“

Fünf Stunden pro Woche wird Malik in der Schule von einer Fachkraft des multiprofessionellen Teams unterstützt, beim Turnunterricht und bei ganz normalen Schulaktivitäten. Ihr Sohn habe großes Glück, sagt die Mutter. Doch was passiert nächstes Jahr, wenn Malik die erste Klasse besucht? Dann heißt es Schreiben, Lesen und Rechnen lernen. Vor allem das Schreiben wird dem Jungen große Probleme bereiten. „Fünf Stunden Unterstützung werden nicht reichen“, meint die Lehrerin.

Koordinations- und Gleichgewichtsübungen fallen dem Jungen besonders schwer.
Koordinations- und Gleichgewichtsübungen fallen dem Jungen besonders schwer.
Foto: Privat

Die Mutter sorgt sich um die schulische Entwicklung ihres Sohnes. Sie hofft, dass er die Hilfe bekommt, die er braucht, um sich seinen Fähigkeiten entsprechend entwickeln zu können. Sie möchte auf jeden Fall, dass er Schreiben lernt, aber sie hofft auch auf Kompensierungsmaßnahmen, dass er Aufgaben auf dem Computer machen oder beim Diktat die Wörter mündlich buchstabieren darf, statt sie zu schreiben. Die Lehrerin sieht keinen Grund, warum es mit seiner schulischen Entwicklung nicht klappen sollte, „wenn er die nötige Unterstützung bekommt“.

Facebook-Konto “Dyspraxie Lëtzebuerg”

Seit der Diagnose ist die Mutter von drei Söhnen in Sachen Aufklärung sehr aktiv. Die Eltern haben ein Facebook-Konto mit dem Namen „Dyspraxie Lëtzebuerg“ eingerichtet. Sie wollen generell auf die Dys-Problematik aufmerksam machen, sich mit Betroffenen austauschen, die Menschen sensibilisieren sowie Informationen und Hilfe für Eltern und Lehrer anbieten.

Und sie wollen, dass die Politik mehr für Kinder mit Lernschwierigkeiten tut, z. B. mit der Schaffung einer Plattform nach dem Muster des „Cartable fantastique“, einer französischen Organisation, die Lehrern Informationen und spezifische Aufgaben für den Unterricht mit dyspraktischen Kindern zur Verfügung stellt. „Was in Frankreich möglich ist, ist auch hier möglich“, sagt sie. Zudem sollte die Dys-Problematik gezielter in der Lehreraus- und -weiterbildung thematisiert werden.

Seit dem Dys-Forum im Januar sei Luxemburg aufgewacht, hat Maliks Mutter den Eindruck. „Die Großherzogin hat uns Eltern aufgefordert, zum Anwalt unserer Kinder zu werden. Sie hat recht. Wer sonst soll die Rechte unserer Kinder einfordern, wenn nicht wir?“